zombie

Vom Vorstadt-Milchbubi zum Graffiti-Zombie 
Eine fiktive Horrorerzählung mit realem Hintergrund

Wann genau der erste Kontakt mit dem Graffiti-Virus stattfand, ist nur noch schwer zu erahnen. Zu wirr und ungenau sind die ersten Erzählungen über den noch nicht infizierten Zombie. Es muss sich aber um eine männliche, nicht auffällige Person des Mittelstandes handeln. so um die 14 Jahre alt, normales Umfeld. Dass er sich von den Graffitis in der Nachbarschaft angezogen fühlt, sie abzeichnet und schliesslich Turnschuhe mit breiten Schnürsenkeln trägt, war wohl nur eine Frage der Zeit.
Er fängt nun an, sich für andere Gleichgesinnte zu interessieren und knüpft Kontakte. Da sich das HipHop-Fieber über den ganzen Planeten ausgebreitet hat, lernt man so ganz selbstverständlich Leute aus allen möglichen Ländern kennen. Ganz schön lehrreich, so nebenbei.
Früh konfrontiert mit Apartheid, Minderheitenunterdrückung und Polizeigewalt, wurde die Freundschaft zu einem B-Boy aus seiner Parallelklasse zum entscheidenden Faktor. Dank ihm lernte er noch  mehr Farbenverrückte und Style-Besessene kennen. Bald wachte er beim Trainbombing, malte seinen Namen auf jede Wand und ging an HipHop-Jams. Jede freie Minute verbrachte er in der HipHop-Welt.
Es war die Verwandlung vom Vorstadt-Milchbubi zum Graffiti-Zombie.
Meine Familie mit Ausreden zu belügen und sich in der Nacht aus dem trauten schlafenden Haus zu schleichen, wurde schon fast zur Mission. Meine ganze vierjährige Lehrzeit verbrachte ich mit Graffiti und HipHop.
Was für eine verrückte Zeit - mit wahren Graffiti-Orgien: Illegal malen in der Nacht, legal malen und zeichnen am Tag, dann an einen (in dieser Zeit noch raren) HipHop - Jam oder Konzert (an denen wir uns auch noch davonschleichen, um zu bomben). Wir spacten voll ab, hatten immer neue Ideen und verwirklichten diese auch.
Dieser scheinbar endlose Freundschaftsgedanke, die Aufopferung für die Gang und für Style waren einfach einzigartig.
Nichts und Niemand konnte uns aufhalten.
UpperClass eroberte die Welt!
Innert kurzer Zeit wurden wir zum Inbegriff des Hardcore-Bombing in der Schweiz. Es war erstaunlich zu sehen, was sich daraus entwickelte. Oder aus damaliger Sicht gesagt: Wir wurden famous, Zombie hatte Fame, war ein Radikaler! Andere zollten uns Respekt und widmeten uns Pieces. Ich wiederum lernte Leute kennen, die meinen grössten Respekt verdienen.
Meine Familie wurde unausweichlich über meine Tag-, aber auch meine Nachtaktivitäten aufmerksam: Jugendanwaltschaft, Wildstyle-Graffiti im Schlafzimmer, afroamerikanische Freundinnen. Meine Mutter fand meine Pieces immer schön, doch bei WholeCars meinte sie immer: "Muss das wirklich über die Fenster gesprayt werden?" Mein Vater machte sich -
ohne einen Ton zu sagen - aus dem Staub, doch auch er hätte mich nicht ändern, mich nicht aufhalten können: Ich war eine wandelnde Spraydose - mit der klaren Absicht, alles voll Farbe zu sprühen.
Style war mir am Anfang nie sehr wichtig. Es musste gross und möglichst schockierend sein. Lieb waren mir immer die nächtlichen Spaziergänge in einem Quartier, dass meinen Namen noch nicht trägt. Es war ein spezielles Gefühl, die ganze Strasse unter Kontrolle zu haben, jederzeit bereit zu sein, die Spraydose  nach vorne zu nehmen - oder zu rennen. Der Grundgedanke der Gang war: Überall in der Stadt deinen Namen zu verbreiten.
Nicht für Fame.
Nicht für Frauen.
Nicht für Geld.
Nein!
Für die Gang.
Für einen selbst.
Für mich selbst.
Züge zu besprühen - das Ultimativste für einen Hardcore-Bomber - wurde zu einer Art  organisiertem Verbrechen. Stunden vor dem eigentlichen Bombing machten wir schon
unsere Pläne. Wir studierten Zugpläne, komponierten wahnsinnige Bilder auf Papier und putzten fein säuberlich unsere Cans (um sie bei einem möglichen Polizeizugriff am Tatort zurückzulassen). Dann kam endlich das Bombing, zuerst immer Tatort und Umgebung abchecken. Dann Zugriff auf ein Bahnareal mit rollenden Leinwänden. Das Bombing ging immer sehr schnell, jeder wusste was zu tun war. Danach die Entfernung vom Tatort, immer einer der heikelsten Phasen. Wenn uns jetzt eine  Polizeikontrolle erwischte, wie wir aus dem Gebüsch auf die hellbeleuchtete Strasse treten, werden sie uns wohl kaum ohne zu kontrollieren, passieren lassen.
Dann aber nichts wie weg, negative Gedanken stören nur die Aura, ab zu einem sicheren Ort. Weg von der Strasse! Nochmals alles Revue passieren lassen, sich über vergessene  Dedications oder Sonstiges ärgern oder sich um besonders geile Styles
zu erfreuen.
Doch der wahre Augenblick kommt dann erst Stunden später. Wenn überhaupt. Denn es kam auch vor, dass wir vergebens auf die Einfahrt des Zuges warteten. Das waren dann die "Innerlichen". So genannt, da sie nur bei jedem der dabei war, innendrin im
Herzen zu finden waren. Keine Beweise. Nichts !
Man stelle sich vor: Die Typen reissen sich den Arsch auf, damit alles organisiert wird und am Ende steht man mit nichts da! Es gilt also den besprühten Zug bei seiner ersten Fahrt (weil die kann unter Umständen direkt zum Buff führen) an einem Bahnhof am besten im Stillstand abzufangen und zu fotografieren. Was manchmal frühmorgens im Winter zu einer Qual in vieler Hinsicht führen kann: der Zug fährt nicht ein, immer noch zu dunkel für ein gutes Foto diverse SBB- und andere Beamte, die plötzlich sehr aufmerksam alle Passagiere, die am Perron warten, mustern. Wir mussten immer so seriös wie möglich am Bahnhof auftreten, und dass nach einer schlaflosen und farbspritzenden Nacht.
Doch nach getaner Arbeit hundemüde einzuschlafen, war wohl die Belohnung. Nie mehr schlief ich so gut. und dass am Tage, bis es schliesslich wieder dunkel wurde. Das Leben eines Zombies.
Goldene Zeiten waren das. Ich glaube nicht, dass wir innerhalb der Szene wirklich Feinde hatten. Wenn dann Neider, aber niemals hatte ich Probleme mit Crossings oder sonstigem. Die Szene war wie zu klein und zu eingeschworen. Alle hatten nur einen Feind: die Polizei!
Das war wohl einer dieser Standpfeiler meines HipHops: Alle sind gleich, sind sie noch so verschieden. Man hatte eine Ideologie. Nichts anderes als die Welt sollte verändert werden.
Wir machten sie bunt oder verschönerten sie mit tanzen oder Songs. Für mich war so mancher B-Boy 1000-mal krasser als so ein besoffener Punk. Damals hatte ein jeder einen Grund, wieso er ein Homeboy oder ein Flygirl war.
Heute ist es zum wahren Alptraum geworden: Der HipHop ist kommerzialisiert. Heute musst du nur die neue 50cent als Klingelton auf deinem Handy haben und die richtigen Markenklamotten tragen, und schon bist du dabei! Meist keiner dieser kleiner Clowns, die man mit grosser Klappe auf der Strasse stolzieren sieht (als wären sie soeben mit dem Privatjet von Campton hier in das Bergkaff Zürich ausgeschafft worden) kann tanzen (und zwar stylish oder Breakdance), geschweige denn Graffitis malen. Sie können vielleicht einen Rap von Eminem (den sie zuvor im "Bravo" auswendig gelernt haben) und natürlich krass aussehen und vollkrass sprechen. Aber von Respekt und Toleranz haben diese Typen
(und leider auch Girls) keine Ahnung!
Manchmal gehe ich an das Grab von HipHop, richte die Blumen und diskutier mit ihm! Frage ihn, was war und weshalb und warum. Doch Antworten krieg ich keine. Wünsch mir dann, auch bloss nur so dazuliegen und bedauert zu werden. doch als Untoter ist es Pflicht, Aufgabe und Qual, andere zu überleben, um seine Mission zu erfüllen.


Zombie UC     Dezember 2006 Zürich
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